Chaos-Protokoll



Erstes Kind-zweites Kind…
Die Schwangerschaft mit meiner Großen war ein wunderbares Erlebnis. Bis auf zwei Monate Übelkeit ging es mir einfach gut und zwar praktisch die ganze Zeit. Ich bin jeden Morgen fast eine halbe Stunde zur Arbeit gelaufen, Nachmittags wieder zurück, ich habe Sport gemacht, war im Aqua-Fitness und sobald es Sommer war fast jeden Nachmittag noch schwimmen. Völlig zufrieden und kaum sichtbar schwanger habe ich im siebten Monat noch Urlaub gemacht, die Sonne und meine Freizeit genossen. Strahlend, sonnendurchflutet und sicherlich unerträglich glücklich.
Dass es diesmal anders werden würde und man natürlich mit Arbeit und Kind und Haushalt nicht mehr ganz so gut zur Ruhe kommt, wusste ich. Aber dass es so extrem werden würde, habe ich nicht erwartet! Denn eigentlich, von kleineren Machtkämpfen und Dummheiten einmal abgesehen, ist die Große ein sehr liebes Kind. Ich versuchte natürlich trotzdem, ihr immer gerecht zu werden, ließ Arbeit und Haushalt schleifen, erledigte nur noch das Nötigste, um mich besser um Madame kümmern zu können. Lieber Spielplatz oder Schwimmbad als Staubsaugen, das war unsere Devise. Und trotzdem hat es irgendwie diesmal alles hinten und vorne nicht hingehauen…

Juli – eins, zwei Kinderzirkus!
Anstrengender Kurzurlaub um meinen Geburtstag, dann Kindergeburtstag und viel Besuch, irgendwie alles ohne Pause, ein Dämon, der in nicht vorhersehbaren Abständen in mein Kind fährt, Spinat in der Birne und erste Warnzeichen, die ich vielleicht zu leicht genommen habe.
Die Ärztin spricht mir gut zu, ich soll mir Magnesium besorgen und auch mal die Füße hochlegen. Magnesium klappt, Füße hochlegen leider nicht.

Es wird August – ich bin noch immer unter Strom
Irgendwie wird alles schwer, zwar ist mir nicht mehr schlecht, aber der Bauch drückt und ich gehe ziemlich auf dem Zahnfleisch. Besonders unkluge Entscheidung: Die Große und ich fahren sowohl 350 km zu meinen Eltern, als weitere 300 zu meinen Großeltern zum Familienfest. Jubel, Trubel, Heiterkeit. Schön war’s schon, besonders, weil es sein kann, dass ich meine Oma zum letzten Mal gesehen habe, die immer kränker wird.
Nach einem Besuch auf dem Stadtfest nach der Rückkehr krieche ich dem Kind praktisch auf Händen und Füßen hinterher, beanspruche auf dem Spielplatz eine Bank für mich, weil ich nicht mehr grade sitzen kann, sondern liegen muss. Ganz ehrlich, ich dachte immer, ich stehe in guter Verbindung zu meinem Körper und seinen Funktionen, aber rückblickend kann ich sagen, ich bin ein ziemlich ignoranter Idiot. Es ist Samstag der 17.8., mein jüngstes Patenkind hat Geburtstag und trotz meines Zustandes mache ich mir vor allem Vorwürfe, dass ich schon wieder nur anrufe und die knapp 300km Weg nicht auf mich genommen habe.
In dieser Nacht habe ich zur ersten Mal richtige Wehen. Und zwar alle drei Minuten. Der Gatte natürlich im Nachtdienst, wo ich ihn beistandslos und heulend um zwei Uhr früh anrufe.
Am Sonntag bin ich in der Klinik, die Nerven flattern. Was passiert jetzt? 23+1 und ich habe in einer Geschwindigkeit Wehen, die ich nur von der Geburt der Großen kenne.
Langes Warten, Untersuchungen. Die Diensthabende Oberärztin hat ein beängstigend besorgtes Gesicht, selbst im Normalzustand. Nach CTG, Pippi in den Becher, Ultraschall und allem PiPaPo bittet sie uns zu sich an den Schreibtisch. Wir sind angespannt und hilflos, die Große weiß auch nicht so recht, was vor sich geht.
„Puh.“ Die Ärztin bläst die Backen auf, betrachtet besorgt meinen Mutterpass und die verschiedenen Papiere vor sich. „Also, Sie haben Wehen, das ist nicht kleinzureden.“ (hat meiner Meinung nach auch keiner versucht, ich sitze immerhin am Sonntagvormittag in der Uniklinik) „Jetzt müssen wir sehen… Sie müssen…23. Und 24. Woche, da ist gerade die Grenze zur Lebensfähigkeit erreicht.“ erneut sehr besorgte Blicke zu uns, auf die Blätter und in den Computer. In diesem Moment geht uns unabhängig voneinander durch den Kopf: Es ist vorbei. Wir müssen jetzt eine Entscheidung treffen, gegen das Baby. Mir wird schlecht und ich wünschte, ich könnte diese dämliche besorgt aussehende Frau zwingen, es wenigstens jetzt in Worte zu fassen, denn ich kann es nicht.
Erneut bläst sie die Backen auf, rückt die Brille zurecht. „Also Sie müssten jetzt eigentlich direkt hier bleiben und stationär aufgenommen werden, wenn das irgendwie möglich ist.“
Verdattert versuche ich zu erfassen, was sie sagt. Hier bleiben? Natürlich! Denkt sie, ich gehe jetzt nach Hause, baue ein Regal auf und wasche die Vorhänge?
Blick zum Gatten, dem wahrscheinlich erneut so ziemlich das gleiche durch den Kopf geht, immerhin teilen wir schon fast 12 Jahre ein Leben, er nickt sofort.
„Bring mir einfach meine Sachen.“ Bringe ich hervor und er nickt, noch immer ziemlich blass bis grünlich um die Nase.
Die Ärztin wirkt nicht minder erleichtert und greift nach dem Telefon. „Ich lasse ein Bett für Sie bringen, sie können im Kreißsaal warten. Irgendwelche bekannten Allergien?“
Das hat sie schon gefragt und ich schüttele erneut den Kopf.
Wenig später sitze ich allein vor dem Kreißsaal, nach drinnen zu gehen kam mir irgendwie makaber vor. Eine freundliche Schwester bringt ein Bett, schiebt mich doch noch nach drinnen und ich liege neben dem Gebärstuhl und starre auf die Decke in die kleine bunte Lichter eingelassen sind. Ich will hier nicht sein, nicht im August. Und ich hasste plötzlich grün. Leider wechseln die Lichter ihre Farbe zwischen blau und grün.
Der Gatte legt mir den Zugang selbst, ich bitte ihn, auch meine Eltern anzurufen, weil ich nicht sicher bin, ob ich ihnen das jetzt selbst erzählen kann.
Lange Gänge, die Große kuschelt mit mir auf dem Bett, dann ein Zimmer, in dem schon eine blasse, rothaarige Frau liegt, die mir aber noch am selben Tag sagt, dass sie fürchterlich froh war, als sie gesehen hat, dass ich keine vor Glück übersprudelnde Neu-Mama bin, sondern auch den Tokolyse-Perfuser mit mir herumschleppe.
10 Tage liegen wir nebeneinander, Nicole und ich, zum Glück. Kleine Lagerkoller von Zeit zu Zeit, immer dieses Starren auf die blöden Bilder der beiden Neugeborenen direkt vor den Betten, kein Blick nach draußen, sondern auf einen dunklen Innenhof. Wir sind eingesperrt und machen uns dauerhaft Sorgen. Jeden Tag neue Gesichter, Ärzte, Schwestern, Hebammen. Die Visite versuche ich für Nicole zu übersetzen, die immer viel zu aufgeregt ist, und ich bin genervt, dass wir ständig nur so überfallartig und immer zu verschiedenen Uhrzeiten mit Fachjargon bekotzt und dann wieder allein gelassen werden.
Da lag ich dann. Wenigstens war die Fruchtblase bei mir noch intakt. Das Fernsehprogramm ist unerträglich, aber normalerweise sehe ich auch Mittags nicht fern und Abends nicht RTL. Lustigerweise gibt es Tele 5 und ich gucke dort ein paarmal alte Star Trek-Folgen, großes Tennis! Nebenbei lese ich ca 7 Bücher oder schaue mit Nicole Gilmore Girls auf meinem Laptop. Zum Denken oder gar zum Schreiben komme ich nicht. Telefonieren will ich nicht und beantworte auch eher spärlich alle sonstigen Nachrichten. Was will ich denn sagen? Ich lieg hier rum, weiß der Kuckuck wie lange und verliere vielleicht mein Kind? Da sag ich lieber nichts.

Inzwischen ist es schon Ende Oktober und ich bin noch immer schwanger, bei 33+0.  Seit über einem Monat haben wir das Lager bei meinen Eltern aufgeschlagen und das Zusammenleben klappt erstaunlich gut, irgendwie wurden wir einfach integriert und die Große ist natürlich happy mit Oma und Opa und dem großen Cousin, der im selben Haus wohnt. Nächstes Wochenende wollen wir die Rückkehr nach Gießen versuchen, ich hatte nur noch ein paarmal Wehen und die ließen sich mit Magnesium, Baldrian und hinlegen beruhigen. Auch die Ärztin, bei der ich deswegen notfallmäßig nun einige Male war, findet den bisherigen Verlauf gut. Das Baby entwickelt sich zeitgerecht, ist zwar leider inzwischen in Beckenendlage, aber darüber versuche ich mir noch nicht zu viele Sorgen zu machen, sie dreht sich schon noch. Eine Normale Geburt wäre natürlich mein Wunsch, aber nach dieser Schwangerschaft und der ganzen Sorge, denke ich, dass ich auch einen Kaiserschnitt noch schaffe, wenn nur alles gut geht. So unangenehm der Gedanke an aufschneiden und OP und abrupt auch ist, und so viel Angst ich vor dem verfluchten Kaiserschnitt habe, in Beckenendlage eine Geburt, das Risiko ist mir zu groß für die Kleine.
Mal sehen, was noch passiert, ich vermisse Zuhause und ich vermisse unser normales Leben. Die Große wird in den Kindergarten kommen, auch darauf freue ich mich. Ohne meine Eltern wird es natürlich schwieriger, Haushalt, einkaufen und Nachmittagsbespaßung wieder unter einen Hut zu kriegen, aber irgendwie schaffe ich auch das noch. Ich habe nicht alles im Griff und das muss ich auch nicht, fertig.
Tschaka! Ich bin nicht krank, nur schwanger! Naja, diesmal wohl eher nicht.

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