Konsequenz hat Konsequenzen
Sehen Sie
die junge Frau auf der anderen Straßenseite? Sie ist blass, die Haare stehen
wirr um ihren Kopf. Sie hat ein etwa vierjähriges Mädchen an der Hand, das sich
die Seele aus dem Leib schreit und um sich schlägt. Es ist November, das kleine
Mädchen ist barfuß obwohl es nieselt und die Frau mit dem mühsam beherrschten Gesicht,
das bin ich.
Aber der
Reihe nach.
Jede Kette
ist nur so stark wie ihr schwächstes Glied. In einer Familie könnte man sagen,
sie ist nur so stark wie der, der am wenigsten geschlafen hat. In diesem Fall
waren das ich, die Große und die Kleine. Und damit war der Morgen eigentlich
schon gelaufen, ehe er überhaupt begonnen hatte. Der Wecker hat geklingelt,
keiner wollte aufstehen. Als es dann eigentlich schon zu spät für Frühstück im
Kindergarten war, fiel der Großen plötzlich ein, dass am Montag vor dem Frühstück
Bücherei ist. Also alle aus dem Bett, das Baby heult, die Große liegt in
Fötushaltung auf dem Badvorleger und erklärt mir mit schrillem Gejammer, dass
ich sie im Dunkeln anziehen muss. Tut mir leid, Hase, andersrum wird heute ein
Schuh draus, ich zieh das Baby an und du dich, dann flitzen wir runter, steigen
ins Auto und du kannst dir noch ein Buch ausleihen. Vielleicht. Protestgeschrei
begleitet mich zum Wickeltisch und ich überlege, was ich ihr fürs Frühstück
einpacken soll. Gebrüll ignorieren, da tue ich mein möglichstes, rufe ich Richtung
Bad, was in die Brotdose soll. Gurke. Fein, das geht fix. Baby gewickelt,
eingepackt und runter, hastig die Haare aus dem Gesicht gebunden und Gurke
schälen. Fünf Minuten später sitzt die Große nasebohrend im Schlafanzug auf der
Treppe und weigert sich, sich allein anzuziehen. Als ich sage, dass wir es dann
nicht in die Bücherei schaffen, jault sie auf und trampelt mit den nackten
Füßen. Immerhin, sie verschwindet mit lautem Getöse nach oben. Weitere fünf
Minuten später sitzt sie in einem
pinkfarbenen Kleid und mit Jeans und Haarband im zerzausten Haar wieder
vor mir und guckt mich herausfordernd an.
Gut, dann
die Schuhe. Nee, mach ich nicht. Bitte zieh die Schuhe an. Mach ich nich! Hase,
zum letzten Mal, zieh die Schuhe an, sonst nehm ich dich ohne mit. Ich will
aber keine Schuhe!
Tränen,
Geschrei, inzwischen heult auch das Baby aus lauter Solidarität wieder. Gut,
letztes Angebot, ich die Schuhe, du die Jacke. NEEEIN! Kreischen, trampeln, am
Boden wälzen.
Bing! Haben
Sie den zarten Nachhall gehört? Das war mein Geduldsfaden. Mein letzter Nerv.
Ich packe das schreiende Kind beherzt, trage es hinaus und setze es ins Auto.
So habe ich einen Moment, mich zu sammeln, schnell ein paar Bachblüten zu
tröpfeln und das nun seltsamerweise wieder friedliche Baby einzupacken. Im Auto
sitz ein rotäugiges schluchzendes Teufelchen. Ich biete an, die Schuhe und die
Jacke noch anzuziehen, sofort geht die Sirene wieder los und ich mache die
Autotür zu. Gut, dann eben nicht. Das Kind schreit aus Leibeskräften, böse
Mama, halt sofort an!! HALT AAAAN!! Hier Schuhe anziehen! Ich versuche ruhig zu
bleiben, Hase, das ist ein Ampel, da kann ich nicht aussteigen und dir die
Schuhe anziehen. DOCH!!! Jetzt! Halt an! Völlig hysterisch tritt sie von hinten
an meinen Sitz, dann fliegt tatsächlich ein Schuh an die Windschutzscheibe.
Ohne zu zögern fahre ich rechts ran, drehe mich um und gebe ihr eins aufs Dach.
Das Geschrei wird lauter, sie kennt nämlich die Gesetzeslage und weiß, dass man
keine Kinder hauen darf. Außerdem will sie jetzt sofort Schuhe anziehen. Ich
fädele mich wieder in den Verkehr ein, biete einen Kompromiss an. Am
Kindergarten werde ich dich anziehen. NEIIIN!! JETZT hier! Halt sofort an,
blöde Mama!
Am
Kindergarten wird das Geschrei noch lauter, sie wehrt sich mit Händen und
Füßen, ich weigere mich, das Auto noch einmal zu wenden, zwei Straßen
zurückzufahren und sie dort anzuziehen. Erneut um Ruhe bemüht, biete ich ein
letztes Mal an, ihr die Schuhe anzuziehen. Als sie wutkreischend nach mir
tritt, packe ich zu, stelle sie barfuß auf den nassen Gehweg und klemme ihre
Jacke unter den Arm. Tobend und kreischend lässt sich das Kind hinter mir her
ziehen. Das Baby sieht uns schweigend hinterher, als ich die etwa 100 Meter
Spießrutenlauf zurücklege. Irgendwie hat sie verstanden, dass ich sie heute
nicht mitnehmen kann. Und ich habe gelernt, dass ich es zur Not auch bis zum
Äußersten durchziehen und konsequent bleiben kann. Wahrscheinlich bin ich etwa
3 Jahre gealtert bei dieser Aktion, aber wir haben seither kaum noch Probleme
beim Anziehen gehabt.
Das kann
sich natürlich heute, morgen oder auch in drei Wochen ändern, wie immer.
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