Leseprobe aus Nebelwanderer Band 1 - Dunkle Vergangenheit

Prolog  



Beklemmende Dunkelheit umgab mich, als ich vorsichtig die Augen öffnete.
Ich hörte Stimmen in meiner direkten Umgebung und mein Magen zog sich vor Angst zusammen. Meine waren Hände gefesselt und ich spürte, wie mir die Galle den Hals hinaufstieg. Wo war ich und wie lange war ich bereits hier? Mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln versuchte ich, mich aufrecht hinzusetzen, und warf einen schnellen Blick durch den fast tiefschwarzen Raum. War ich allein
Die Erinnerung an die letzten Stunden schien wie gelöscht von der Festplatte meines Innersten. Und das befeuerte meine Furcht in einer Art, wie ich es bisher nicht gekannt hatte. 
Leises Gemurmel ließ mich zusammenfahren und ich wandte mich in Richtung der Stimmen, die offenbar aus einem Nachbarraum hinter dünnen Holzwänden herüberdrangen. Sie sprachen kein Englisch, dessen war ich mir sicher. Ich lauschte genauer und schloss sogar die Augen wieder, um nur ein paar mehr Worte zu hören. Es waren Männer, die sich unterhielten. Drei, vielleicht auch vier. Sie bemühten sich, gedämpft zu sprechen. Aber nach einigen sehr intensiven Sekunden des Lauschens wurde mir bewusst, dass ihre Sprache nicht so fremd klang, wie es mir zunächst vorgekommen war: Sie sprachen eine Form des Altnordischen, die sehr Norwegisch anmutete, und stritten sich um etwas.
Eine bizarre und bei Betrachtung meiner misslichen Lage doch recht unpassende Erleichterung überkam mich für einige Sekunden. Ich hatte bereits in Kindertagen Schwedisch und Norwegisch gelernt und später auch einige Finnischkurse an der Uni belegt. Altnordisch war mir durch meine Arbeit am archäologischen Institut in Dublin ebenfalls vertraut. Derzeit verdiente ich mir sogar den Großteil meines Lebensunterhaltes als Reiseführerin für Touristen aus Skandinavien, die nach Irland kamen, um das Land zu erkunden, das ihre Vorfahren im neunten und zehnten Jahrhundert mit Feuer und Schwert erobert hatten.
Mit angehaltenem Atem lauschte ich und hörte einen von ihnen etwas sagen, das klang wie „soll kein Leid geschehen“. Ich betete, dass er über mich sprach. 
Ein anderer lachte nur. 
„Das wird Vater entscheiden“, sagte eine tiefe Stimme und bald darauf entfernten sich schwere Schritte. Die Tür wurde geschlossen und die eintretende Stille war noch wesentlich unangenehmer als der vorherige Streit. 
Ein schwerer Gegenstand knirschte hinter der lückenhaften Wand meines Gefängnisses über den Boden. Ich hörte einen Mann leise seufzen. Er murmelte etwas in sich hinein, das klang, als äffe er seinen Kameraden nach, der gerade den Raum verlassen hatte.
Das wird Vater entscheiden.
Wessen Vater?
Unterkühlt und verängstigt bis in die tiefsten Winkel meiner Seele blieb ich einfach sitzen. Ich legte die Stirn auf meine Knie, inzwischen froh, dass ich noch immer meinen warmen Regen-overall trug, denn ich zitterte wie Espenlaub. Am liebsten hätte ich geweint, doch ich war zu panisch, um auch nur einen einzigen Laut von mir zu geben oder mich zu rühren. 
Plötzlich wurde die Tür nach innen aufgestoßen.
So schnell ich es vermochte, krabbelte ich rückwärts, als sich ein Mann näherte. Er hatte einen Teller und eine dicke, kurze Kerze in der Hand. Ich fühlte mich geblendet von dem unerwarteten Licht, so klein es auch war. Sofort befürchtete ich das Schlimmste und starrte mit zusammengekniffenen Augen in sein Gesicht, das flackernd durch den Kerzenschein erhellt wurde.
Er war jung, vielleicht Mitte Zwanzig. Der kleine Bart an seinem Kinn war dünn und altertümlich dekorativ mit drei Holzperlen verziert. An seiner geschwollenen Lippe sah ich Schorf und ein dichtes Muster an Blutspritzern auf seinem Gesicht. 
Langsam stellte er den Holzteller in der Mitte der kleinen Zelle ab und hob unter beruhigendem Gemurmel die Hände in meine Richtung. Ich fühlte mich bei dem leisen Brummen spontan behandelt wie ein scheues Pferd oder ein verängstigtes kleines Kind. Der Mann näherte sich mir nicht weiter. Er stellte lediglich die Kerze neben dem Teller auf dem Boden ab und ging in die Hocke. 
Seine dreckverkrusteten Finger deuteten auf mich und er gestikulierte in Richtung seines Mundes.
„Teile mein Essen“, wiederholte er mehrfach und nahm schließlich ein Stück Brot und begann darauf zu kauen. Vielleicht, um mir zu zeigen, dass es nicht vergiftet war.
„Iss, iss!“, beharrte er und legte den Kopf schräg, um mich genauer anzusehen. Sein leichtes Lächeln entblößte zwei fehlende Schneidezähne.
Aber ich war in dieser Sekunde zu abgelenkt vom Anblick der ledernen Brustplatte, die er umgeschnallt hatte, der Axt, die er auf dem Rücken trug, und dem schwarzen Tattoo eines stilisierten Raben, das seine gesamte Stirn bedeckte.

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